Mittwoch, Dezember 31, 2008

Rondo - abgeschlossene Geschichte mit losen Enden

Die Tür fiel hinter ihm mit einem metallischen Geräusch ins Schloss. Sekundenbruchteile später rastete der Sicherheitsriegel ein. Der Ton hatte etwas von Endgültigkeit und weckte Nick aus dem tranceähnlichen Zustand, in dem er sich seit der Urteilsverkündung befunden hatte. Wie lange stand er schon hier, zwei Schritte von der Tür entfernt, zwei Handtücher, zwei Waschlappen, ein Stück Seife, Zahnbürste und Zahnpasta in der Hand. Er legte die Sachen auf die schmale Pritsche, mit der dünnen durchgelegenen Matratze, die wohl sein Bett sein sollte. Darauf lagen ein dünnes Kissen und eine graue verwaschene Wolldecke, ausgemustert aus Armybeständen. Dann richtete er sich wieder auf. Sein Blick wanderte auf dem Boden entlang, darauf ein Fleckchen Sonne, von Gitter in Streifen geschnitten. In der Ecke stand ein Tisch, mit Metallfüßen am Boden fest verankert, davor ein Stuhl. Beides von erschreckender Nüchternheit und Funktionalität. Wahrscheinlich hatte im Auftragsbuch des Herstellers billig, stabil und ohne Verletzungsgefahr gestanden. Dem Bett gegenüber befanden sich eine Toilette – ohne Deckel – und ein Waschbecken, beides aus Edelstahl, aber eher aus Angst von Vandalismus, denn aus ästhetischen Erwägungen. Über dem Waschbecken befand sich eine Ablage die gerade für das Zahnputzzeug reichen würde, an der Wand ein Haken für zwei Handtücher. Die Wand war nicht gekachelt, sondern im Bereich der „Sanitäranlagen“ mit Ölfarbe gestrichen. Die Farbe war wahrscheinlich einmal weiß gewesen, doch hatte sie dem Nikotinangriff seiner Vorbewohner nur wenig mehr entgegenzusetzen gehabt als der restliche Anstrich. So war sie nun nikotingelb, wenn auch etwas heller als die anderen Wände. Rechtecke und Quadrate, sich zum Teil überlappend, von fast weiß bis dunkelgelb, wie die Ecken des Raumes, bildeten ein bizarres Muster, am ausgeprägtesten über dem Bett und dem Tisch, wohl ein bevorzugter Platz für Familienphotos und Pin-up-Girls. Die fast geschwungenen Linien über dem Bücherbord, das über dem Tisch befestigt war, ließen auf die Menge der Habseligkeiten seiner Vorbewohner schließen – oder auf ihre Aufenthaltsdauer. Im Moment besaß er gar nichts. Seine Kleidung, die er in U-Haft noch hatte tragen dürfen hatte er gegen anstaltseigene eintauschen müssen. Unterhose, Unterhemd, Socken, Hose, Hemd und einen Pullover sowie schlechtsitzende Schuhe. Er könne sich von seinen Angehörigen Schuhe bringen lassen und eine Uhr und... Man hatte eine Liste der erlaubten Dinge vorgelesen, aber er konnte sich nicht mehr an die Details erinnern. In seinem Kopf war nur Platz für ein einziges Wort gewesen:

Fünfundzwanzig!

Er hatte versucht auszurechnen wie alt er dann sein würde, doch das Bild von Irinas Gesicht hatte das Denken unmöglich gemacht. Die Fassungslosigkeit hatte aus ihren Augen gesprochen. Er hätte sie gerne umarmt, ihr gesagt, es tue ihm leid – und sich von seinem ungeborenen Kind verabschiedet. Doch die Handschellen waren, ohne dass er es bemerkt hatte um seine Handgelenke gelegt worden und die MPs hatten ihn zum Seitenausgang geschoben, wo der Wagen wartete, der ihn zurück zum Untersuchungsgefängnis gebracht hatte. Dort hatte er dann zum letzten mal die Uniform der Army ausgezogen und war in seine eigenen Kleider gestiegen, doch nur für den Weg zum Army State Prison of Texas.

Fünfundzwanzig. - - - Fünf – und – zwanzig. ----FÜNFUNDZWANZIG!!!

Diese Zahl hatte es ihm unmöglich gemacht etwas von der Landschaft zu sehen. Der Spott und die Witze der MPs erreichten ihn nicht und auch ihre unnötige Grobheit, als sie ihn aus dem Wagen zerrten nahm er kaum wahr.

Fünfundzwanzig!

Die Tür, die sich gerade hinter ihm geschlossen hatte – oder war es schon ein paar Minuten her, vielleicht auch noch länger – war aus Metall. Der graue Anstrich blätterte an einigen Ecken ab, so dass die rote Rostschutzfarbe zum Vorschein kam. Die Tür hatte keinen Griff – wozu auch, würde er doch niemals entscheiden wann sie aufging und wann nicht. Im oberen Drittel war ein kleines vergittertes Fenster, doch dahinter auch nur wieder graues Metall. Wahrscheinlich konnte man diese Klappe von außen öffnen.

Das Sonnenfleckchen hatte das Bett erreicht und der goldene Glanz der Abendsonne nahm dem Grau der Decke etwas an Trostlosigkeit, doch nur für einen Augenblick. Dann wurde er gewahr, dass die geschwungenen Linien auf den Handtüchern nur die Schatten des Gitters vor dem Fenster sein konnten. Richtig, das Fenster hatte er noch gar nicht beachtet. Auch jetzt blieb er unschlüssig stehen – er war sich nicht sicher ob er jetzt schon wissen wollte, welche Aussicht er die nächsten fünfundzwanzig Jahre haben würde. Immerhin hatte das Fenster einen Griff.

Er setzte sich langsam auf das Bett, stützte den Kopf auf die Hände und fühlte sich älter, als er in 25 Jahren sein würde und müde, müder als er jemals zuvor gewesen war. Das war sein Grab, das Ende seines Lebens – nichts würde mehr kommen. Im Moment war er dankbar für die Gefühllosigkeit, die der Schock des Urteils hinterlassen hatte. Tim war mit ihm im Wagen gewesen, aber sie hatten nichts gesprochen, was hätte man auch sagen sollen?

Fünfundzwanzig Jahre!

Jetzt stand es fest, keiner würde ihn mehr fragen nach dem Warum, kein Anwalt ihn mehr anbrüllen: „Mein Gott, ich soll sie v e r t e i d i g e n! BITTE reden Sie mit mir!“ Kein Richter würde ihn mehr bitten, endlich Klarheit in die Angelegenheit zu bringen. Keine Fragen mehr, die er nicht beantworten wollte oder durfte, wollte er Irina und sein Kind nicht noch einmal in Gefahr bringen.

Verdammt noch mal, er würde auch das überstehen, er hatte schon Schlimmeres überstanden. Mit einem Ruck hob er den Kopf, um ihn gleich darauf wieder sinken zu lassen. Eine verbeulte Toilette war nicht gerade ein aufmunternder Anblick.

Irgendwann griff er nach dem Zahnputzzeug, stand auf und ging zum Waschbecken. Er wollte die Sachen die Ablage legen, zögerte kurz und legte sie dann doch ab, danach die Seife in die dafür vorgesehene Mulde im Waschbecken. Fast hektisch griff er nach den Handtüchern und den Waschlappen und hängte sie an die Haken. Es wäre Selbstbetrug und es wäre kindisch gewesen, diese paar Sachen nicht an ihren Platz zu räumen, als könne er damit hinauszögern, dass diese trostlosen Wände von nun an sein „Zuhause“ sein würden, für so lange Zeit, dass er genauso gut „für immer“ sagen konnte.

Dann ging er zum Fenster und riss es mit einem Ruck auf. Ein Schwall heißer Luft kam herein und mit ihm der Geruch nach Hochsommer, schwer und stickig. Erst jetzt fiel ihm auf wie still es gewesen war. Durchs Fenster kamen die Geräusche aus anderen offenen Fenstern herein, Musik aus dem Radio, nein aus mehreren mit verschiedenen Sendern. Irgendjemand sang ziemlich falsch einen Hit aus den aktuellen Charts „... free, free, set me free!“ Eine andere Stimme brüllte:

„Caruso, halt die Klappe, sonst dreh’ ich dir morgen Dein Goldkehlchen um.“

Die Stimme, die offensichtlich ‚Caruso’ gehörte, brach das Lied ab und begann auf spanisch ausgiebig und einfallsreich zu fluchen, während die andere Stimme resigniert dazu bemerkte: „Dieser Scheißlatino ist eine Plage, entweder er ruiniert deine Ohren mit seinem Gejaule, oder er textet dich mit seinem Kauderwelsch zu! Ich werd’ mit seinem Anwalt reden müssen, der soll endlich Berufung einlegen – oder ich red’ mit meinem Anwalt und frag’ mal, ob in meinem Urteil was von Folter steht!“

Nick musste fast wider Willen grinsen, zumal er das meiste der Schimpftirade Carusos verstanden hatte, und dieser sich jetzt wieder aufs Singen verlegt hatte, ungeachtet der Proteste mehrerer anderer Häftlinge.

Die Aussicht war nicht gerade berauschend, direkt gegenüber befand sich noch ein Zellenblock, hinter den meist offenen Fenstern konnte er hie und da einen Häftling sehen. Manche saßen auf der Fensterbank, einige hatten die Arme durch die Gitter gestreckt und gestikulierten. Sie unterhielten sich wohl mit anderen. Die meisten rauchten. Nick hätte etwas gegeben für eine Zigarette, obwohl er eigentlich nur Gelegenheitsraucher war.

Seine Zelle befand sich offensichtlich im dritten Stock - war er Treppen hinaufgegangen?

Langsam kam die Erinnerung zurück, an lange Flure, viele Gittertüren, die sich nur abschnittsweise geöffnet hatten, der Raum in dem er seine Kleider hatte abgeben müssen, die oberflächliche und grobe ärztliche Untersuchung, das Desinfektionsmittel, mit dem sie ihn eingesprüht hatten, - und, er strich sich über den Kopf, der „Frisör“, der im Schnellverfahren jeder eventuell vorhandenen Kopflaus den Garaus gemacht hatte. Amerikanische Paranoia!

Der Mann mit dem Rasierapparat war ein Gefangener gewesen und auch auf den Gängen hatte er Häftlinge gesehen, die putzten.

Dann hatte er seine neuen Kleider erhalten und eine Marke, ähnlich der, die er bei der Army gehabt hatte, nur war die Kette kürzer und man hatte sie mit irgendeinem Spezialwerkzeug verschlossen..

Danach war ein Mann in tadelloser Uniform erschienen. Er war nicht besonders groß, dafür aber umso breiter, mit einem feisten Gesicht mit Doppelkinn und kleinen resignierten Augen. Nick, Tim und ein paar Kleinkriminelle, die man von anderen Stützpunkten unterwegs noch aufgelesen hatte, standen in einer Reihe. Einige maulten und einer sagte ständig und zu jedem, das sei alles ein Irrtum und diese menschenunwürdige Behandlung würde Folgen haben, wenn er nach seinem Berufungsverfahren wieder auf freiem Fuß wäre. Die einzige Reaktion des Wachpersonals war ein knappes „Klappe halten!“ gewesen und selbst der „Frisör“ hatte nicht mehr als eine gelangweiltes und gedehntes „Jaaa, jaaa“ für ihn übrig gehabt. Der Mann in der Uniform hatte sich als Direktor vorgestellt, dann aber einem langen, spindeldürrem zappeligen Enddeißiger Platz gemacht, der wohl so etwas wie sein Adjutant war. Dieser hatte aus einer Liste nacheinander und in alphabetischer Reihenfolge die Namen vorgelesen:

„Andrews, Niclas, - Totschlag, 25 Jahre... .“

Nick hatte „Ja“ gesagt und mehr gespürt als gesehen, wie sein Nachbar ein Stück von ihm abgerückt war.

„... Block C, Zelle 374.“

„Garner, Philip – Bewaffneter Raubüberfall...“

Der Mann, sich gerne ein Stück von Nick entfernt hätte, hieß, wie sich am Ende des Alphabets herausstellte, Thomson und hatte wohl versucht seinen Sold mit einem Tankstellenüberfall aufzubessern, - 2 Jahre ohne Bewährung. Entweder war er ein Wiederholungstäter oder er hatte einen miserablen Anwalt gehabt.

Tims Zelle war in Block A, die Nummer hatte Nick nicht mitbekommen. Ob das wohl das Gebäude gegenüber war? Er würde fragen müssen, bei Gelegenheit.

Nachdem der Dürre alle Namen auf seiner Liste abgehakt hatte, ergriff der Dicke das Wort.

Er redete von „gut miteinander auskommen“, „sich an Regeln halten“ und sagte dann mit Schärfe:

„Dies hier ist kein Ferienlager und jeder von Ihnen ist aus gutem Grund hier. Da sie offensichtlich nicht in der Lage waren, sich in der Gesellschaft an allgemeingültige Regeln zu halten, werden wir Ihnen zumindest beibringen unsere Regeln hier zu beachten. Wir verschwenden keine Zeit und keine Worte um Sie zu ermahnen. Verstöße werden sofort geahndet. Deshalb hören Sie jetzt besser zu!“

Die Resignation war aus seinen Augen gewichen und hatte einer unerbittlichen Härte Platz gemacht, vermischt mit einer unangenehmen Portion Verschlagenheit. Das Bild von Dick und Doof, dass sich in Nicks Kopf gebildet hatte, löste sich wieder auf.

Der Dürre hatte begonnen mit monotoner Stimme vorzulesen. Der Text begann mit dem üblichen Blabla über die Werte der Vereinigten Staaten von Amerika im Allgemeinen und die der Army im Besonderen. Schlussendlich lief es darauf hinaus, dass auch ein Army-Gefängnis letztendlich zur Army gehöre, der Häftling aufzustehen habe, wenn jemand vom Wachpersonal seine Zelle betrat, das Wachpersonal mit ‚Sir’ anzusprechen sei, die Zelle in einem ordentlichen Zustand zu halten sei, man mit dem Eigentum der Army pfleglich umzugehen habe, und so weiter.

Nick hatte aufgehört zuzuhören, die Fünfundzwanzig hatte sich wieder in seinem Kopf breitgemacht.

Nach einer endlosen Liste mit Verboten und Vorschriften kam noch ein kurzer Part über die Rechte, z. B. sich Schuhe mitbringen zu lassen, aber KEINE Markenschuhe – deshalb hatte man ihm seine Nikes also nicht gelassen.

Endlich verstummte die schnarrende Stimme des Adjutanten. Der Direktor trat auf Nick zu – vielleicht hatte er sich nur den ersten Namen merken können – sah ihm in die Augen und fragte dann leise drohend:

„Haben Sie das verstanden, Gefangener Andrews?“

Nick wich seinem Blick aus, ihm war nicht nach Konfrontation zumute und sagte tonlos:

„Ja, Sir.“

„Fein!“, sagte der Direktor lächelnd, „wenn Sie sich auch noch daran halten, können wir die nächsten 2 ½ Jahrzehnte prima miteinander auskommen, nicht wahr?“

„Ja, Sir.“

Der Direktor lachte laut, drehte sich zu seinem Adjutanten und dem Wachpersonal herum und sagte, während seine Stimme vor Vergnügen gluckste:

„ Na schau’n Sie sich den Musterknaben mal an! DER hat bestimmt niemanden erschossen, das MUSS ein Irrtum sein!“

Nick dachte sich, dass er höchstens zwei Sekunden benötigen würde, um diesem aufgeblasenen Typen sein feistes Genick zu brechen. Vielleicht würde er zu einem späteren Zeitpunkt darauf zurückkommen, dann wenn die restlichen 5 oder 10 oder 20 oder 24 Jahre unerträglicher sein würden, als die Aussicht auf den elektrischen Stuhl.

„Schönen Tag noch, meine Herren!“, sagte der Direktor gönnerhaft, ohne dass klar wurde, ob er die Häftlinge, das Wachpersonal oder beide meinte. Dann stapfte er, immer noch leise vor sich hinlachend, zur Tür hinaus, gefolgt von seinem Adjutanten, der ihm spinnengleich hinterher stakste.

„Wird Zeit, dass wir die Bestien ihn ihre Käfige sperren“, sagte einer der Wachleute, „sonst geht noch die ganze Pause dabei drauf!“

Er öffnete die Tür und brüllte:

„Waschpulver, wo bleibst du?“

Ein Gefangener kam eilig herein. Er war ziemlich klein, vielleicht 50 Jahre alt und blickte stur vor sich auf den Boden. Auf dem einen Arm balancierte er einen Stapel Handtücher und Waschlappen, in der anderen Hand trug er eine Kiste. Er stellte beides umständlich auf dem Tisch ab und verließ dann eilig den Raum.

„So, jeder nimmt sich zwei Handtücher und zwei Waschlappen – ich hoffe ihr könnt bis zwei zählen..“ - allgemeines Gelächter seitens der Wachleute- „... und eine Zahnbürste und eine Tube Zahnpasta, sowie ein Stück Seife aus der Kiste. Also, immer schön sauber bleiben!

Andrews, du fängst an.“

Nick nahm sich die Sachen und wurde gleich darauf unsanft an der Schulter Richtung Tür gezerrt. Zwei Wachleute begleiteten ihn einige Treppen hinauf, durch endlose Flure mit vielen Türen. Immer wieder mussten sie vor Gittertüren warten, bis diese geöffnet wurden und jedes Mal stieß einer der beiden Nick dann wieder vorwärts. An Abzweigungen hielten die zwei es wohl für amüsanter, ihn in die gewünschte Richtung zu schubsen, anstatt rechts oder links zu sagen. Schließlich kamen sie vor einer offen Tür in einem der langen Gänge an.

„Willkommen daheim!“, sagte einer der Wachleute.

Nick beeilte sich zwei Schritte nach vorn zu tun, um dem obligatorischen Stoß zu entgehen. Und tatsächlich traf die Hand des anderen Wachmanns ins Leere, und er stolperte neben Nick in die Zelle. Zu einem anderen Zeitpunkt hätte sein verduztes Gesicht Nick amüsiert, jetzt war es ihm egal. Der Wachmann, bemüht, sich vor seinem Kollegen nicht noch mehr zu blamieren, riss sich zusammen, ging zum Fenster, drehte sich herum und breitete in einer feierlichen Geste die Arme aus.

„Ich hoffe es ist alles zu Ihrer Zufriedenheit, Majestät!“ Dann ging er mit einer angedeuteten Verbeugung und einem spöttischen Grinsen an Nick vorbei wieder hinaus. Die Tür fiel hinter ihm mit einem metallischen Geräusch ins Schloss.


(c) dare_or_not 2001